Die Welt dreht durch – ich nicht.

Wie wir nicht beeinflussbares beinflussen

"Und der Sommer hätte so schön werden können…"

 

Wir alle hätten es wirklich verdient und ich hätte es jedem von Herzen gegönnt. So lange haben wir entbehrt und uns zusammengerissen, die Zähne zusammengebissen und die Unsicherheiten jongliert und uns abgehalten in die Tischkante zu beißen bei der nächsten home schooling Verlängerung. Nun endlich verlor Corona an Dramatik, es lag ein Hauch von Normalität in der Luft. Alle haben wir uns die ersten Sonnenstrahlen gefreut, denn damit stieg die Hoffnung auf niedrige Inzidenzen. Die Lebensfreude stand mit den Lockerungen in den Startlöchern, aber dann mehrten sich die Nachrichten über ein Land, das wir bis dahin eher selten auf dem Schirm hatten und plötzlich bekam der „freedom day“ eine ganz andere Bedeutung. Jetzt beschäftigen wir uns nun nicht mehr mit Lockerungen und Ommikron, sondern mit Ukraine und Russland. Plötzlich geht es um Krieg in der Nachbarschaft, kalte Heizungen, Gasknappheit, Atomkraftwerke, Rohstoffmangel, Flughäfen kollabieren pünktlich zu den Sommerferien und überall fehlt Personal, als hätte sich irgendwo ein riesiges Loch aufgetan und jemand aus einem Paralleluniversum hätte das ganze Fachpersonal mit einem riesengroßen Staubsauger von unserem Planeten gesaugt.

 

Das ist natürlich purer Sarkasmus und Ironie, aber fühlt es sich nicht ein bisschen so an? Tatsächlich sind wir kontinuierlich mit Dingen konfrontiert, die gefühlt geballt auf uns einprasseln, die wir weder selbst entschieden haben und auch nur bedingt oder gar nicht beeinflussen können und auf jeden Fall nicht wollten, denn niemand hat sich Corona ausgesucht, rennt gerne mit Masken rum oder ist ein Fan von home schooling geworden, mag Eiskristalle am Fenster oder zahlt gerne das Doppelte für Gas. Warum auch? Nicht beeinflussen und entscheiden zu können ist etwas, womit wir Menschen nicht gut zurechtkommen. Manche Theorien sagen sogar, dass Burnout auf diese Weise entsteht, wenn wir bspw. zu lange in alten Mustern verharren und uns deshalb Situationen wiederfinden, in denen wir das Gefühl haben, keinen Einfluss zu haben (z.B. langanhaltende Konflikte am Arbeitsplatz). Manchmal ist es uns nicht bewusst, aber das kostet kontinuierlich Energie. Wir merken es dann an anderen Stellen. Manche haben ein höheres Schlafbedürfnis, manche mehr Hunger, andere haben weniger Energie für Sport, können sich weniger gut konzentrieren oder vergessen das ein oder andere, was man sich sonst immer mühelos gemerkt hat. Manche haben schlichtweg Angst, manche sogar Panik und verzweifeln. All das passiert, wenn wichtige Lebensbereiche von anderen entschieden werden, ohne dass wir mitentscheiden können. Jeder von uns geht anders damit um, aber nicht jede Strategie ist unbedingt hilfreich. Stephen Corvey entwickelte dazu ein hilfreiches Modell, in dem er dieses Phänomen gut erklärte, den Circle of Influence. Es beschrieb 3 Bereiche, in denen wir uns wiederfinden können:
Circle of Control

Innerer Kreis (circle of control)

Bestenfalls erleben wir unser Leben so, dass wir darauf Einfluss haben, gestalten können und auch selbst entscheiden. So haben wir Einfluss uns Entscheidungsmöglichkeiten bei wichtigen Dingen, wie unsere Ernährung, Bewegung, Freunde, Beruf und womit wir uns in unserer Freizeit beschäftigen. Je mehr wir uns in diesem Kreis aufhalten und je stärker wir uns darauf konzentrieren, desto besser geht es uns und desto mehr Energie haben wir, resilienter sind wir und erleben das Leben als logische Folge dessen, was ich täglich entscheide und tue. 

 

Mittlerer Kreis (circle of influence)

Hier beschreibt Corvey Lebensbereiche, die wir zwar noch beeinflussen können, aber nicht entscheiden können. Stellen Sie sich vor, Ihr Partner hat einen hohen Cholesterinwert und Sie bitten Ihn, sich bewusst zu ernähren. Sie können Ihre Sorge und Bitte äußern und damit Einfluss nehmen, aber ob Ihr Partner dem folgt ist seine Entscheidung. Es bleibt eine Restsorge, mit der es umzugehen gilt. Je mehr wir mit solchen Themen konfrontiert sind, je mehr Restsorgen, Unsicherheiten, Unklarheiten haben, desto stärker erleben wir unser Leben als stressig und es entstehen Ängste. Wir müssen uns damit abfinden, dass Dinge außerhalb unserer Macht liegen, drehen aber noch nicht durch, denn wir haben ja zumindest Einfluss.

 

Äußerer Kreis (circle of concern)

Der dritte Kreis beschäftigt sich mit den unangenehmsten Lebensbereichen, solche auf die wir keinen Einfluss haben und auch nicht selbst entscheiden können. Ein Beispiel kann hier Corona sein. Wir wurden mit etwas maximal Bedrohlichem (z.B. Bergamo) und Unbekannten konfrontiert, was zu einschneidenden Entscheidungen führte, auf die wir weder Einfluss hatten noch selbst mitentscheiden konnten (Lockdown etc.). In diesem Kreis sind wir mit Gefühlen konfrontiert, wie Panik, Verzweiflung und fühlen uns oft ohnmächtig, ausgeliefert und bevormundet. Das ist an und für sich schon schwer erträglich. Entspricht das aber zusätzlich noch alten Erfahrungen, die wir bspw. aus der Kindheit her kennen mit den eigenen Eltern, kann dies bis zu Retraumatisierungen führen. Das erklärt meines Erachtens auch die teilweise heftigen Reaktionen von einigen Menschen. 

 

Der Kreis gibt nun eine Erklärung, aber wie soll das im Alltag weiterhelfen? 

 

Die Herausforderung heißt also, den Fokus möglichst wenig darauf zu richten, worauf wir weder Einfluss haben noch durch Entscheidungen etwas verbessern können. Das ist nicht so einfach, weil Sorge und Angst uns oftmals dazu bringen uns genau damit und nur damit zu beschäftigen. Das ist wie das Reh, das in den Lichtkegel des Autos blickt, anstatt wegzugehen. Der erste Schritt heißt also uns bewusst zu machen, in welchem Kreis wir uns bewegen um so Einfluss darauf zu nehmen. 

 

Was heißt das für unseren Alltag in dieser aktuellen Lage?

Schau nicht mehrmals täglich die Nachrichten und reduziere den Medienkonsum bewusst. Es ist hilfreich, über wichtige Entwicklungen informiert zu sein, es bringt aber nichts, noch mehr brennende Häuser zu sehen. Die Ukrainer haben von dieser Art der Anteilnahme übrigens auch nichts. Es ist ein reiner Stressor und fördert Angst und Sorge.

 

  Rede nicht ständig über die Geschehnisse, sondern sprich über Deine Gefühle, wie es Dir damit geht. Die Geschehnisse kannst Du nicht beeinflussen, Deine Gefühle aber schon. Studien besagen übrigens, dass alleine das Aussprechen negativer Emotionen sie schon  erträglicher macht und das Stresslevel senkt. Es ist normal Angst zu haben und ok.

 

Konzentriere Dich auf das, worauf Du Einfluss hast. Um uns herum passiert genau das:  Die Telekom bietet kostenlose Telefonate in die Ukraine an, Menschen nehmen Flüchtlinge auf und spenden Kleidung und Medikamente, politische Sanktionen werden ausgesprochen. All das beendet nicht den Krieg oder löst die Situation auf (äußerer Kreis), aber es geht einem besser damit, weil wir etwas Sinnstiftendes tun, das wir beeinflussen können und selbst entscheiden (innerer Kreis).

 

Finde eine Balance zwischen dem Weltgeschehen und Deinem persönlichen Leben und erlaube Dir auch mal nicht über Krieg und Pandemie nachzudenken, ohne Dich gleich unempathisch und desinteressiert zu fühlen. 

 

All das beendet keinen Krieg, aber es kann helfen uns nicht verrückt zu machen und auch woanders hinzuschauen. Nicht vergessen, es ist trotzdem auch Sommer, die Wirtschaft wächst immer noch, es gibt viele gut bezahlte Stellenanzeigen, die Kindersterblichkeit sinkt, das Ozonloch schrumpft, Kinderarbeit hat sich halbiert, genauso wie die Anzahl von HIV infizierten und während in den 80er Jahren noch 30% der Weltbevölkerung in externer Armut lebten, sind es heute 10%. Und es mag vielleicht grenzwertig klingen, aber in den letzten 3500 Jahren der Menschheitsgeschichte herrschte 3250 Jahre Krieg und es gab nur 250 Jahre ohne Kriege. Statistisch ist das 1 Jahr Frieden alle 13 Jahre. Es fühlt sich jetzt natürlich bedrohlicher an, weil er um die Ecke ist, wir Menschen und Boxweltmeister dort kennen und Putins Raketen das Oktoberfest pulverisieren könnten. Global und historisch gesehen ist derzeit dennoch business as usual auf dem Planeten. Irgendwo ist immer ein traumatisierte Herrscher, der Realität und Wahn nicht mehr unterscheiden kann, irgendwas ist mit der Wirtschaft immer und wenn’s nicht das Gas ist, dann ist es das Öl, das Benzin oder das Geld. Außerdem werden Gaspreise wieder sinken, die Immobilienpreise auch und irgendwann haben wir Solardächer, Windkrafträder, Gezeitenkraftwerke, denn Gas gibts in 67 Jahren eh keins mehr, sagt das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut. 

 

Das macht es heute nicht besser, aber zeigt doch klar, worauf wir Einfluss haben und wo die Grenzen liegen. Mich beruhigt das, weil der Bereich des Beeinflussbaren dadurch in meinem Kopf wieder größer wird und ich deshalb diesen Blogeintrag geschrieben habe. Wenn der Dir dabei hilft mit Unbeeinflussbarem ein kleines bisschen gelassener umzugehen, dann freue ich mich. 

 

Peace,
  Simon 

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