Kurz vor Erleuchtung
Es gibt Umfragen unter jungen Menschen, was im Leben erstrebenswert sei und die Hauptantworten liegen bei Wohlstand, Reichtum, Bekanntheit und einer erfolgreichen Karriere.
Mir wurde irgendwann klar, dass nichts davon ein Ziel ist, sondern Effekte und Folgen, wenn bestimmte Dinge funktionieren, da sind oder gelebt werden. Ich habe für mich aber bis dato 45 Jahre gebraucht, um das benennen zu können in einer Sprache, die verständlich ist und nicht komplexe, kauderwelschartige Gedankenketten bedeuteten, die sich in Hauptsätzen mit 10 Nebensätzen äußern.
Ich dachte wirklich, das sei immens kompliziert und es bedarf eines ganzen Lebens Selbststudium, um klarer zu sehen. Aber dem ist offenbar gar nicht so. Vielmehr ist der Weg dorthin das komplizierte, denn je mehr tradierte und seltsame Überzeugungen in einem sind, desto verwaschener und komplexer wirkt das Ziel. Das Ziel selbst ist eigentlich recht simpel und wirklich nichts Neues.
Harvard weiß alles.
Die Harvard Universität hat ein großartiges Forschungsprojekt, das bald 80 Jahre läuft. Es begleitete anfangs nur Männer, heute Männer und Frauen entlang ihres gesamten Lebens mit der Frage, was macht ein gutes, erfülltes und glückliches Leben aus. Jedes einzelne Jahr haben sie die über 700 Probanden wieder und wieder interviewt, deren Familien, deren Ärzte und Freunde und mittlerweile deren 2000 Kinder und haben turnhallenweise Daten gesammelt und kommen zu einem sehr eindeutigen Ergebnis. Welche Probanden wurden alt, blieben gesund, welche Gehirne funktionierten noch lange am besten, welche Ehen hielten und welche Paare waren glücklich, wer hatte intakte Freundeskreise und Familien? Wer wurde krank, war alleine, stieg ab, starb früher und wurde unglücklich? Wer war erfolgreich? All das lässt sich ganz klar benennen und es matchte mit dem, was ich für mich selbst herausfand.
Stephen auch.
Stephen Porges erforschte das menschliche Nervensystem und fragte sich, was brauchen wir Menschen, damit unser Nervensystem gut funktioniert, damit wir uns sicher fühlen, verbunden fühlen, Leistung bringen können und all unsere Organe und Funktionen im normalen Bereich laufen, damit wir lange gesund bleiben? Und Überraschung, er kam auch wieder zu demselben Ergebnis. Es war aber weder Wohlstand, Reichtum, Bekanntheit oder eine erfolgreiche Karriere.
Der entscheidende Faktor ist die Qualität der Beziehungen, die wir in unserem Leben mit anderen haben.
Das ist alles.
Echt jetzt? Das ist alles?
Ja, mehr ist da erstmal nicht. Die Realität sagt uns, das reicht schon als Herausforderung. Die Uni Bochum fand bspw. heraus, dass sich in Deutschland 17 Prozent aller Menschen ständig oder häufig einsam fühlen. Das ist fast jeder Fünfte. Depressionen sind der Hauptgrund für Krankschreibungen und jeder Zweite kriegt sie in seinem Leben mal. Meiner Erfahrung nach hat das alles mit der Qualität der Beziehungen zu tun, die wir mit den Menschen um uns herum haben. Wir sind eben Rudeltiere und brauchen vertrauensvollen Kontakt, psychologische Sicherheit, Beziehung, Nähe.
Wenn es also etwas gibt, in das wir unsere Zeit und Energie stecken sollten, dann in das! Denn je mehr wir davon auf gute Weise haben, desto gesünder, leistungsfähiger, zufriedener, ausgeglichener sind wir. Und jetzt kommt der Bogenschluss: Und desto erfolgreicher, wohlhabender und von mir aus auch bekannter werden wir.
Wo ist der Haken?
Wie ich schon sagte, das ist wirklich nichts Neues. Jeder Mensch würde sagen, dass Beziehungen wichtig sind, Familie Halt gibt, ein gutes Team die halbe Miete ist. Wenn wir das alle wissen, warum machen wir es denn dann nicht auf breiter Ebene schon längst? Wo ist der Haken? Da gibt’s leider einige:
- 1. Keiner sagt uns wie das geht.
- Es dauert zu lange und wir suchen schnelle Lösungen.
- Es ist anstrengend.
- Je besser wir es machen, desto anstrengender wird es.
Es gibt kein Schulfach, in dem uns beigebracht wird, wie Freundschaft, Partnerschaft, Liebe, Zusammenarbeit und Teamwork gehen. Wir lernen ja nicht einmal wie man Leistung erzeugt in einer Leistungsgesellschaft.
Wir glauben scheinbar das entwickelt sich von alleine, als vorausgesetztes Allgemeinwissen irgendwie, das man halt einfach hat, oder so ähnlich. Dabei ist es hoch komplex und es braucht viel Wissen darum, damit es gelingen kann.
Konfliktlösung to go
Das aufzubauen, sowohl das Wissen, als auch die Beziehungen selbst, dauert lange und es ist total unsexy. Wie oft werde ich nach 3 Coaching Sessions gefragt, wie lange es denn noch dauern würde, bis sich die Beziehung zu den Mitarbeitern, der Partnerin, den Eltern wieder normalisieren würde. Wir haben doch schließlich schon 3x 90 Minuten darüber gesprochen. Stimmt haben wir, aber Du hast das Falschmachen 1x 50 Jahre intensiv geübt und verinnerlicht. Was sind da schon 270 Minuten? Wie heißt es im Rocky IV Soundtrack so schön „There’s no easy way out, there’s no shortcut home“. Die Abkürzung brauchen wir auch nicht, es ist ja kein Wettbewerb, sondern das Leben.
Quick fix culture
Also die schlechte Nachricht ist: Das dauert! Damit fällt es aber durchs Lösungsraster unserer „quick fix culture“. Wenn das Raster heißt: finde schnelle Lösungen, denn wir haben keine Zeit, dann heißt es eben leider nicht, finde die guten und tragfähigen Lösungen.
Wenn es also um Beziehungen geht, da gibt’s keine schnellen Lösungen, da gibt’s nur Beziehungsarbeit und die ist oft anstrengend und sie wird immer komplexer, je mehr wir uns damit beschäftigen. Wie bei allem, worin man besser werden kann.
Anfangs geht es nur darum den Ball zu treten. Je mehr wir uns damit beschäftigen, tauchen plötzlich 11 Meter, Abseits, Leistungskurven, Aufstellungen, Strategien usw. auf. Alles wird komplexer, je mehr wir es durchdringen. Wozu soll ich es mir dann komplexer machen?
Je besser wir darin werden, desto mehr kriegen wir von all den guten Sachen aus der Studie. Desto gesünder, glücklicher und leistungsfähiger werden wir.
Lösung bitte. Jetzt.
Sehr wohl! Für mich gab es eine Sache, die mir wirklich geholfen hat, die Qualität meiner Beziehungen zu verbessern und ich würde es Selbstoffenbarung nennen. Damit meine ich, andere an dem teilhaben zu lassen was wirklich, wirklich in mir vorgeht. Mein Kauderwelsch zu teilen, ohne Angst zu haben, dass der andere denkt, ich sei etwas verwirrt. Meine Emotionen zu zeigen, ohne Sorge zu haben, der andere hält es nicht aus oder es könnte unprofessionell wirken. Sagen, wie ich es wirklich sehe und was ich denke, ohne zu befürchten anzuecken.
Ich meine, wie soll denn jemand eine qualitativ gute Beziehung mit mir haben können, wenn ich mich gar nicht zeige und nur die gefilterte Version von mir an die Öffentlichkeit lasse? Wie soll da jemand Bindung und Vertrauen aufbauen, wenn ich nur die instatauglich optimierte Version von mir präsentiere? Oder die Version, in der ich versuche, der Rolle gerecht zu werden, die souverän, leistungskonstant, schlagfertig, allwissend ist und jedes Jahr mindestens einen Marathon läuft?
Eckig statt rund
Die Frage, die ich dann stelle ist, was hat das noch mit Dir zu tun, wenn Du Dich so performanceoptimiert zeigst? Wo ist der tolpatschige, liebenswerten Kerl in Dir, der eigentlich alles vergisst, wenn er es sich nicht aufschreibt? Das liebenswerte Mädchen, das eigentlich lieber empathisch ist als tough? Der schüchterne Junge, der es eigentlich hasst vor Menschen zu reden? Die, die schon immer wollte, dass alle gut miteinander auskommen und gerne zusammen sind? Der, der schlecht schläft, sich Sorgen macht, wütend ist, sich den Kopf zerbricht und nicht genau weiß wie. Die, die es immer noch allen recht macht, gemocht werden will, dafür zurücksteckt und längst die Schnauze voll hat davon? Dürfen die auch Platz haben im Spiel der Erwachsenen und gezeigt werden? Denn dann entstehen ehrliche und gute Beziehungen. Ich rede dabei nicht von den harmonischen mit abgefeilten Ecken, sondern den tragfähigen mit leichten Kanten. und das zutiefst Sicherheit gebende Gefühl, dass es uns eigentlich allen irgendwie gleich geht. Vielleicht habe ich das Glück, genau das durch meinen Job schon zu wissen nach vielen tausend Coachings und ich teile es gerne! Wir haben am Ende alle dieselben Sorgen, Ängste, Befürchtungen, Sehnsüchte, Bedürfnisse. Wie toll wäre es, wenn wir offen damit umgingen und uns zeigen würden und wenn das auch noch gesund, glücklich und erfolgreich macht. Wahnsinn, das ist ja quasi der heilige Gral. Schade nur, dass es ihn nicht an der Schnellkasse zu kaufen gibt.
Dein
Simon
Bildnachweis: MEDITERRANEAN
Stock-Fotografie-ID:1351746589